Die drei Länder sind je etwas grösser als die Schweiz, haben aber zusammen nur etwa 6,2 Millionen Einwohner. Und überraschend: Die Bevölkerungszahl nimmt seit über 20 Jahren in allen drei Staaten konstant um etwa 0,5 bis 1 Prozent pro Jahr ab. Allein aus Litauen sind seit 1990 etwa 600 000 Menschen ausgewandert, von 3,5 blieben 2,9 Millionen Einwohner. Sie fragen sich: Wie haben die Balten das nur geschafft?
Stellen Sie die Frage besser nicht. In baltischen Ohren klingt sie nämlich wie Hohn. Fast 50 000 Menschen verlassen jedes Jahr die drei Länder, und zwar vor allem junge, gut ausgebildete. Bei einem lettischen Lohn von 750 Franken im Monat verdienen sie in Finnland oder Norwegen ein Mehrfaches. Eine estnische Kleinunternehmerin, gefragt nach ihrer Familie, sagt mir nicht ohne Stolz: «Mein Sohn arbeitet als Ingenieur in Rom und meine Tochter studiert in Genf.» Auf meine Nachfrage, wann die Kinder denn nach Estland zurückkämen, schaut sie mich an: «Wahrscheinlich nie.»
Die Abwanderung ist für die drei Länder kein Erfolg, sondern ein grosses Problem. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 10 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit über 20 Prozent. Weil Investitionen und Steuereinnahmen fehlen, ist die Staatsrechnung nur dank enormen EU-Zuschüssen ausgeglichen. Ein litauischer Student zeigt lächelnd auf die Swatch an seinem Handgelenk und bringt es auf den Punkt: «Könnten Sie uns nicht einige Ihrer erfolgreichen Uhrenfabriken mit ein paar tausend gut bezahlten Arbeitsplätzen geben? Dann hätten wir wieder Zuwanderung, Steuereinnahmen und Arbeitsplätze.»
Und die Schweiz? Wir haben Wachstum, tiefe Arbeitslosigkeit, hohe Löhne, eine tiefe Staatsverschuldung und eine gute Altersversorgung. Und dies wegen unserer Stabilität und Rechtssicherheit, wegen unseres Fleisses und unserer Berufsbildung, aber auch wegen der Zuwanderung. Sie ermöglicht, dass Unternehmen und Arbeitsplätze in der Schweiz bleiben. «Dichtestress» haben wir mit Mitteln der Raumplanung und mit Infrastrukturen zu bewältigen, nicht mit Vertreibung von Unternehmen und Arbeitsplätzen. Bei aller Sympathie für den litauischen Studenten: Ich setze mich dafür ein, dass die Uhrenfabriken hier bleiben und wachsen können. Wie es unsere Eltern und Grosseltern möglich gemacht haben. Dafür ist die Ecopop-Initiative Gift. Deshalb sage ich am 30. November klar «Nein».
Erschienen in der Solothurner Zeitung am 13.11.2014